Bundespräsident Gauck an der Deutschen Schule Genf

Am 26. Februar 2013 besuchte der Bundespräsident die DS Genf und hinterließ eine begeisterte Zuhörerschaft.

Der Bundespräsident zu Besuch an der Deutschen Schule Genf

DS Genf, 26.02.2013:

„So. Da bin ich!“ Ahnungen und Planungen der letzten Wochen werden in wenigen Worten zu greifbarer Tatsache: Joachim Gauck, Bundespräsident und Staatsoberhaupt, besucht die Deutsche Schule, um mit Schülerinnen und Schülern über das Thema Menschenrechte zu diskutieren. Eine aufgeregte halbe Stunde haben sechs Schüler der 7. und 10. Klasse mit den im Kunstunterricht gefertigten Begrüßungsgeschenken in der Hand gewartet. Worte und Sätze wurden geübt, verändert, verschoben. Eines der Geschenke ist eine Fotocollage mit einem Brief auf der Rückseite, heute Morgen geschrieben.

Und dann plötzlich ist er da und seine einfachen Worte sind schneller als jede Hemmschwelle. Die Schüler strahlen, das Reden fällt nicht schwer, die Geschenke werden überreicht, der Bundespräsident behält die Fotocollage in der Hand, betritt die Aula. Wie verabredet stehen die Schüler auf und klatschen. Herr Gauck bedankt sich verwundert: „Ich habe doch noch gar nichts gemacht!“

Es ist keine alltägliche Situation: Aus Sicherheitsgründen sind die Außenstores halb heruntergelassen, Personenschützer des BKA stehen gespannt und haben ihr wachsames Auge überall, dazu eine zwanzigköpfige Delegation des Auswärtigen Amtes, des Präsidentenamtes, des Presseamtes und eine große Menge Journalisten. Fotos ohne Unterlass, sobald gesprochen wird, wird auch geknipst, rein, raus, Tür auf, Tür zu – in diesen ersten Minuten geht es um anderes, Schnelles, der Begleittross fixiert die Oberfläche, spult sein Routineprogramm ab.

Nachdem der Pulverdampf der Fotografen verflogen ist, bleibt Konzentration: Der Bundespräsident als Teil eines Diskussionskreises, außen herum in weiteren Kreisen die Schüler der Oberstufe. Anfangs spricht er leise, manch Außenstehender geht näher heran. Die Schüler sind aus dem Politikunterricht vorbereitet, haben Fragen parat. Die einen Fragen sind praktisch und politisch: Wie könnte z. B. ein universelles Menschenbild aufgebaut werden, sodass Menschenrechte als Standard in aller Welt durchgesetzt und eingehalten werden können? Andere Fragen sind kritisch: Was hält der Bundespräsident davon, dass die Vereinigten Staaten im Bereich der Terrorbekämpfung Folter anwenden? Und dann gibt es persönliche Fragen wie diese: Haben Sie Vorbilder? Und: Wie finde ich Vorbilder?

Der Bundespräsident beantwortet all diese Fragen unaufgeregt engagiert, persönlich und offenbar aus einer tiefen Mitte – es spricht ein Mann, der vollkommen bei sich zu sein scheint. Es ist eine Lehrstunde in Authentizität: Jedes Wort ist echt, gelebt und von tiefem Respekt vor dem Ungelösten durchdrungen. Es ist diese Mischung, der sich schon nach wenigen Minuten kein Schüler mehr entziehen kann: Sie rutschen nach vorn, Körperhaltungen verändern sich, viele fangen an zu lächeln.

Sie lächeln bestimmt auch deshalb, weil ihnen eine Dreiviertelstunde lang Optimismus und Ermutigung begegnen. Es begegnet Ihnen der Bundespräsident, aber immer mehr auch ein Mensch, der ihnen immer wieder sagt: Du lebst in einer manchmal fehlerhaften, grundsätzlich aber schönen, positiv zu beschreibenden Gesellschaft und Welt. Du bist frei, dich zu engagieren. Dein Engagement ist möglich, gewollt und es wird, wie groß es auch ist, die Welt verbessern. Und es ist machbar, weil es bei dir im Kleinen beginnt, bei deinen Einstellungen und deinen Bekenntnissen. Erkläre dich für zuständig!

Es ist keine Aufforderung, Konflikte und Dilemmata wegzulächeln. Es ist spürbar, dass weder der Bundespräsident noch der Mensch Gauck wie er sagt „emotionslos“ oder „meinungsfrei“ sind, wenn es um den Einsatz von Folter durch die US-Armee geht. Aber dies Bedrückende steht für ihn neben der Hoffnung: Solange noch Intellektuelle und Presse frei und ungehindert Missstände kritisch reflektieren können, solange sei noch nicht alles verloren. Und solange könnte auch jeder Staat darauf hingewiesen werden, dass er zur Zeit seines Beitritts zu den Vereinten Nationen die Menschenrechte anerkannt hat. Und solange ist ein universelles Menschenbild keine Utopie.

Der Bundespräsident macht deutlich, dass der Kampf für Menschenrechte nicht nur an der Front in anderen Ländern geführt wird, sondern dass er hier bei uns beginnt. Es geht ihm darum, vom passiv-ohnmächtigen Zuschauer zum sich bekennenden Zeugen zu werden und schließlich zum Akteur, der sich etwa in politischen Parteien, aber auch in NGOs oder anderen Strukturen engagiert und für eine Gesellschaft, deren Sinn er versteht und gut findet, einsteht: Sich Zuständig-Erklären nennt er das, erst als innere Haltung. Später dann auch als aktive Haltung des Mitgestaltens. – Das Training, sich zuständig zu erklären, so Herr Gauck, beginne in der Schule: bei der Wahl zum Klassensprecher, beim Engagement in einer AG und vielen anderen Aktivitäten.

Wie kommt man dahin, wird er gefragt? Vorbilder können helfen, so die Antwort. Vorbilder, das sind nicht unbedingt Menschen, die unseren Geist bewegen – es sind vielmehr die, die unser Herz rühren. Das können Großeltern oder Menschen in unserer Nähe sein – in der Frage, warum sie uns rühren, liegt das Inspirierende. Gauck spricht von sich selbst, von Anne Frank oder Pater Maximilian Kolbe, deren Geschichten ihm in seiner Jugend begegnet sind. Das Vorbild, so sagt er, wird deutlich in der Frage „Wie hätte ich reagiert?“ Und es wirkt in dem Prozess, den die Frage anstößt.

Zugegeben, eine Diskussion ist das nicht, was dort abläuft. Aber es ist eine ganz außergewöhnliche Lehrstunde in demokratischem Grundverhalten, eine Ermutigung zur Partizipation und eine ordentliche Portion Lebensmut. Wie sehr sie wirkt, zeigt der rauschende Applaus am Ende.

Draußen stehen die anderen Schüler, vom Kindergarten bis zur 9. Klasse, alle sind da. Herr Gauck verlässt die Schule und stürzt sich förmlich in die Menge, nimmt sich minutenlang Zeit, Hände zu schütteln, die ganze lange Reihe abzuschreiten. Die Oberstufenschüler sollen eigentlich in der Aula bleiben, Sicherheitsgründe. Aber dort hält es sie offenbar nicht. Erst zögernd, dann zielstrebig kommen sie hinterher, gehen zur Wagenkolonne, fotografieren, werden fotografiert, lassen sich mit ihm fotografieren, er macht mit, Arme umeinander gelegt, ich, du, der Bundespräsident, Welten fließen ineinander. Worte und Gesten haben Hemmschwellen beseitigt.

Herr Gauck steigt ein, die Tür schließt sich. Im Fond des dunklen Mercedes kann man sehen: Er setzt seine Brille auf und betrachtet die Fotocollage der 10. Klasse. Er dreht sie um und beginnt den Brief zu lesen.

Als der Wagen anfährt, guckt er noch einmal hoch. Er winkt und selbst der Kritischste und Coolste wagt ein kleines Winken zurück.

Wir bleiben zurück – aber wir sind ein bisschen verändert, berührt und inspiriert.

~kursiv~Autor: Karsten Kilian, Oberstufenkoordinator der DSG~

Helpdesk